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Text: Elias Canetti. Bühne / Regie: Ivan Stanev. Video: Thorsten Alich. Kostüme: Anabel Fröhlich. Dramaturgie: Jürgen Popig. Mit: Andrea Casabianchi, Jan Schreiber, Oliver Meskendahl, Krzysztof Zawadzki, Olaf Weissenberg, Y.Gospodinova, E.Qvascheva, B.Vejinov, T.Blagoev. Aufzeichnung der Generalprobe. Theater Osnabrück 2011
PRESSE
January 29, 2011
Das Wesen der Erinnerung
Autor: Stefan Keim
Projekt „Wanderlust“, Kulturstiftung des Bundes
Das Theater Osnabrück und das Drama Theatre Russe zeigen “Rustschuk – die gerettete Zunge” nach Elias Canetti.
Erinnerungen sind selten klar. Oft verschwimmen die Bilder, fügen sich zusammen,
zerfließen wieder. Eine Autobiographie zu schreiben bedeutet immer auch, sein Lebenneu zu erfinden. Der Regisseur und Bühnenbildner Ivan Stanev hat für das Wesen der Erinnerung ein überragendes Bild gefunden.
Die Bühne des Emma-Theaters, der kleinen Spielstätte des Theaters Osnabrück, steht unter Wasser. Über die Lautsprecher tönt die Stimme des Schriftstellers Elias Canetti, es ist ein Interview zu seinem 70. Geburtstag. Deutsch – so hören wir – ist erst die vierte Sprache, die er gelernt hat. Dazu bewegt sich eine überdimensionale Zunge am Rand des Bassins. Den ersten Teil seiner Autobiographie hat Elias Canetti “Die gerettete Zunge” genannt. Eine seiner frühesten Erinnerungen handelt von einem Mann, der mehrmals drohte, ihm, dem kleinen Jungen, die Zunge herauszuschneiden.
Die Zunge verschwindet, der Schauspieler Jan Schreiber nimmt an einem Tisch Platz, hinter Mikrofon und Schreibmaschine. Er sieht wie der ältere Canetti aus und nähert sich auch sprachlich der wienerischen Sprachmelodie des Autoren. Die Rückschau auf die frühen Jugendjahre beginnt. Bilder schimmern durch die Wasseroberfläche hindurch. Erst sind es Porträtfotos, Canetti als Kleinkind, als Jugendlicher, als Erwachsener. Später sind es Postkarten die Rustschuk, die Stadt an der Donau, die heute Russe heißt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen. Sie drehen sich, zerlaufen, fließen ineinander. Was der Videokünstler Thorsten Alich hier zusammen mit der Osnabrücker Technik leistet, ist grandios. Wir schauen in Canettis Kopf, beobachten den Prozess des Erinnerns.
Sprachengewirr als Alltag
Der aus Bulgarien stammende und in Berlin lebende Regisseur Ivan Stanev und Dramaturg Jürgen Popig haben ein ideales Thema für die Zusammenarbeit der Theater aus Russe und Osnabrück gefunden. Elias Canetti stammt aus Russe oder Rustschuk, das Haus seiner Familie steht noch da. Seine Autobiographie beschreibt den Alltag einer Multikultigesellschaft aus Bulgaren, Türken, Griechen, Albaniern, Armeniern. Canettis Familie gehört zur großen Gruppe der Spaniolen, Juden, die einige Jahrhunderte zuvor aus Spanien eingewandert sind und ihre eigene Sprache sprechen. Seine Eltern sprachen Deutsch, weil sie in Wien gelebt hatten und nur wenige Leute sie verstehen konnten. Sprache als intimer Rückzugsort. Canetti erzählt vom bunten Treiben der Zigeuner, von Spielen und dem Alltag im Haus, vom Schock seiner Umgebung, als er wutentbrannt auf seine Spielpartnerin mit der Axt losging. Zorn, Begeisterung, Liebe, Angst – alles, was das Leben ausmacht, spiegelt sich schon in seinen ersten Lebensjahren.
Wildes Körpertheater
Aus der Vorlage ließe sich nun ein ruhiger, poetischer, textkonzentrierter Abend gestalten. Aber Ivan Stanev will mehr und entfacht mit einem grandiosen Ensemble wildes Körpertheater. Es gibt drei Canettis. Den Älteren am Schreibtisch, der sich immer wieder von der Faszination seiner Erinnerungen auf die Spielfläche, ins Wasser locken lässt. Dann einen jugendlichen Canetti, den Oliver Meskendahl mit überragender Musikalität verkörpert. Und Canetti als Kind, staunend, kämpferisch, naiv. Andrea Casabianchi schafft es wahrhaftig, als Kleinkind völlig authentisch zu sein, gerade weil sie sich von jedem Naturalismus fern hält. Sie spielt die Haltung des Kindes, seine Ursprünglichkeit, seine Freude und Furcht aus dem Inneren heraus. Eine riesige Leistung. Einen wuchtigen Auftritt legt Olaf Weißenberg als monströser Großvater hin, der wie ein alttestamentarischer Rachegott in die Szene bricht, ausrutscht, als habe er einen Infarkt, sich dann zu einem Fluch am Rande des Wahnsinns aufschwingt. Weil er seinen Sohn nicht in die Fremde gehen lassen will.
Am Ende bricht die Familie Canetti auf, nach Manchester. Das Buch geht hier noch viel weiter, die Aufführung nicht. Denn sie bezieht sich ausschließlich auf die Jahre in Rustschuk.
Maskierte Mythengestalt
Für die Schauspieler vom Drama Theater Russe bleiben nur kleine Rollen. Erst sitzen sie als Küchenpersonal an den Ecken des Bassins und schneiden Kartoffeln. Sie singen und witzeln kurz auf Bulgarisch, später treten sie als Zigeuner auf. Es geht an diesem Abend ja um Mehrsprachigkeit, da hätten sie größeres Gewicht erhalten können. Doch diese Chance bleibt ungenutzt. Was die einzige schwache Seite dieses vom Publikum heftig umjubelten Abends ist. Die Bulgaren zeigen in ihren kurzen Auftritten starke körperliche Präsenz, man hätte gern mehr von ihnen gesehen. Der Tänzer Krysztof Zawadzki bekommt mehr Spielraum, tritt als maskierte Mythengestalt auf und verwandelt sich in einen Stier. Wenn er die langen Haare durch das Wasser schleudert, wirkt das fast, als habe er Hörner. Ein kraftvoller, wuchtiger Athlet, der am Ende einen faszinierenden Totentanz zeigt. Während die drei Canettis und das Original aus den Lautsprechern davon fantasieren, dass sie gern den Tod abschaffen würden.
In mancher Hinsicht gelingt ihnen das an diesem Abend. Denn die Erinnerung ist jader Versuch, Vergangenes festzuhalten, den Lauf der Zeit für Augenblickeaufzuhalten. Einmal sehen wir als Projektion im Wasser eine Unmenge von Fotos, vielleicht hundert Gesichter, eine ganze Gesellschaft, versunken, aber nicht vergessen.
Ein Verdienst Elias Canettis und dieser wunderbaren Inszenierung.
Weitere Vorstellungen: 1., 3., 4. Februar, 11., 13., 16. März, 6., 8. April.
Jeweils um 19.30 Uhr im Emma-Theater.